Familienanschluss

Das Internet wusste von Anfang an von meinen Auswanderplänen. Ich teilte mein Glück bei der Greencard-Lotterie zunächst meinem besten Freund und meinen Eltern am Telefon und dann meinen Facebook-Freunden mit.

Nur vor meiner Oma hielt ich den Umzug über den großen Teich vermeintlich bis zur letzten Sekunde geheim. In Wahrheit hatte die Kusine meines Vaters ihr schon längst davon erzählt, da sie via Facebook bestens informiert war. Ich hatte mal wieder vergessen meine Verwandten von meinen Facebook-Updates auszuschließen. Meine Oma versuchte mir regelmäßig bei Telefonaten die Neuigkeiten hervorzulocken und erkundigte sich bei jedem Businesstrip nach San Francisco danach, ob ich denn dort bleiben würde. Ich verneinte jedes Mal und kam tatsächlich zurück. An Weihnachten, nur wenige Tage vor meinem großen Umzug, musste ich ihr dann doch erzählen, dass ich für einige Zeit in die USA ziehen würde. In etwa so lange, dass es sich nicht lohnte, meine Wohnung in Berlin weiterhin aufrecht zu halten. Von meiner Standardantwort „erst mal für immer“ war in dem Gespräch natürlich keine Rede. Meine Oma reagierte daraufhin empört mit „Das weiß ich doch!“ – eine ähnliche Reaktion gab es immer dann, wenn man ihr hilfsbereit erneut erklärte, wie man mit der Fernbedienung den Satellitendecoder ein- und ausschaltete (erst „on“, dann auf die „1“). Damit hatte sich das Gespräch auch schon erledigt und mir fiel der letzte große Stein vom Herzen.

Bei meinem Abschied hatte meine Oma Tränen in den Augen und sagte, dass sie nicht mehr da sei, wenn ich wiederkäme. Das sagte sie bereits seit 15 Jahren und auch wenn die Wahrscheinlichkeit stieg, dass sie irgendwann recht behalten sollte, stritt ich ihren Einwand immer als Quatsch ab.

Da ich meine Oma nun seltener sah, nahm ich ihr Altern stärker wahr als zuvor und erschreckte mich, als sie weniger und irgendwann gar nicht mehr gehen konnte, öfter hinfiel und ständig müde war. Während meiner Besuche riss sie sich allerdings zusammen und wir konnten uns oft für kurze Zeit gewohnt gut unterhalten. Auch ihren Humor – der manchmal etwas makaber war – verlor sie bis zum Schluss nicht.

Immer, wenn ich weder meine Eltern noch meine Oma telefonisch nicht erreichen konnte, befürchtete ich, dass ES passiert sei. Als es dann soweit war, erfuhr ich tatsächlich erst Stunden später von ihrem Tod, da ich in üblicher Sonntagsmanier ausgeschlafen hatte und es erst dann aus dem Familien-Chat erfahren hatte. Ich rief sofort meine Schwestern und Eltern an, die den Schock nach neun Stunden Zeitverschiebung schon etwas verdaut hatten. Mein Vater stellte es mir frei, selbst zu entscheiden, ob ich zur Beerdigung käme, da Oma ja nun sowieso tot sei und ein Last Minute Flug ein Vermögen kostete. Als mein Freund aus dem Badezimmer kam, nahm er mich in den Arm und hatte die seltene Gelegenheit, mich weinen zu sehen.

Die Beerdigung fand vier Wochen nach Omas Tod statt. Mein Chef legte mir keine Steine in den Weg, sondern riet mir aus eigener Erfahrung, Abschied zu nehmen. Damit stand mein Entschluss, nach Deutschland zu reisen.

Die Verwandtschaft staunte nicht schlecht, als ich gemeinsam mit meiner Familie zur Friedhofskapelle schritt. Der Gottesdienst war unangenehm. Der Priester, der meine Oma nicht gekannt hatte, behauptete, sie sei gläubig gewesen und hätte sonntags regelmäßig die Messe im Fernsehen geschaut. Das stimmte nicht, aber man kann den Katholiken auf Nachfrage im Vorgespräch ja nicht das Gegenteil erzählen. Außerdem sprach er den Namen meiner Oma Valeria wieder und wieder falsch (´Valerie`) aus, so dass ich die ganze Zeit überlegte, ob ich ihn unterbrechen sollte, mich dann aber dagegen entschied.

Es war kalt, aber sonnig als wir gemeinsam zum Grab liefen, um Abschied zu nehmen. Dann ging es auch schon zum Leichenschmaus ins Café um die Ecke, dessen Personal nicht auf unsere Ankunft vorbereitet schien, so dass wir selbst den Tisch im Nebenraum deckten und die Bestellung von Kaffee und Kuchen übernahmen. Der kleine Patzer lockerte die Atmosphäre und wir feierten das Wiedersehen während wir gemeinsam von Oma Abschied nahmen.

Manchmal vergesse ich, dass sie gestorben ist und will meinen Eltern am Telefon sagen, dass sie Grüße ausrichten sollen. Ich bin froh, dass ich sie an Weihnachten – wenige Wochen vor ihrem Tod – noch gesehen habe und dass meine Schwester ihr von meinem neuen Freund verraten hat, weil ich meiner Familie an Weihnachten nicht von ungelegten Eiern erzählen wollte. Meine Oma war ein besonderer Mensch in meinem Leben und ich habe sie gewissenhaft sonntags über die wichtigen Dinge in meinem Leben informiert, auch wenn ich ihre Bitte zu bleiben, seit mehr als einem Jahrzehnt ignoriert habe und munter durch Deutschland, Europa und die Welt gezogen bin. Mit dem Blick auf meinen reisefreudigen Lebensstil, sagte mir manchmal “Du machst alles richtig.” Danke Oma, RIP.

Wie man den Familienanschluss über den großen Teich aufrecht hält:

  • Einen Familien-Chat bei What`s App einrichten, um trotz Zeitverschiebung auf dem Laufenden zu bleiben
  • Regelmäßig Fotos und Briefe schicken, um im Gedächtnis zu bleiben
  • Regelmäßig anrufen und über die Uhrzeit, das Wetter, Mahlzeiten oder die Nachrichten reden, um trotz tausenden von Meilen gegenseitig am Alltag teil zu haben
  • Bei der Flugbuchung zum Heimaturlaub nicht vom Preis abschrecken lassen, um später nicht zu bereuen bei entscheidenen Wiedersehen nicht dabei gewesen zu sein